ITIL4 – Praktiken versus Prozesse. Kein alter Wein in neuen Schläuchen.

Die neue Version ITIL4 ist nun schon zwei Monate in Form des ITIL4 Foundation Buches verfügbar. Und viele nutzen nun auch die Möglichkeit der neuen Foundation-Schulung auf der neuesten Version. Lange genug hat der Markt schon warten müssen und viele IT-Organisationen haben im Rahmen ihrer agilen Transformationsbemühungen wohl auch das ganze ITSM-Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Zu schwerfällig und zu rigoros sind die Prozesse rund um das Service Management wahrgenommen worden. ITIL als Best Practice Leitfaden hatte den Zeitgeist lange verschlafen und fast verpasst. Aber zum Glück ist Axelos aus dem Dornröschenschlaf erwacht und die «Game of ITSM» gehen eine Staffel weiter.

Mit der neuen Version ITIL4 wollten die Autoren die praktischen Mängel und die teilweise wirklich berechtigte Kritik am alten Framework korrigieren und durch prägnantere Konzepte ergänzen. Die Inhalte von ITIL V3 Edition 2011 sind nicht als falsch deklariert worden und bilden nach wie vor eine sehr gute Grundlage für den Aufbau des Service Management Systems. Nur hat man leider die Botschaften aus den Büchern nicht immer gut genug verstanden und entsprechend lausig umgesetzt.

Davor ist auch die neue Version ITIL4 nicht gefeit. Man hört derzeit viel über die neuen Inhalte und dabei stosse ich immer wieder auf frappante Aussagen, welche mich befürchten lassen, dass auch mit der neuen Version die Botschaften überhört werden können. Eine dieser Aussagen bezieht sich auf den Wechsel von Prozessen zu Praktiken. Wie man vielleicht weiss, spricht man im neuen Rahmenwerk von ITIL nur noch von Praktiken und nicht mehr von Prozessen. Es wird dann oft diskutiert, dass dies nur eine neue Bezeichnung sei. Alter Wein in neuen Schläuchen – ohne jegliche inhaltliche Änderung.

Mit dieser Sichtweise wird sich tatsächlich für viele nichts verändern. Es tut daher not, hier auf die wichtigen Unterschiede von Practices und Prozesse hinzuweisen.

Prozesse

In den Versionen 2 und 3 von ITIL wurde ein starkes Augenmerk auf Prozesse gelegt. Prozesse wurden dabei definiert als eine strukturierte Kombination von Aktivitäten, die, angestossen durch eine definierte Eingabe – einen Input –, das gewünschte Ergebnis – den Output – sicherstellt. Je nach geforderter Granularität wurden die einzelnen Aktivitäten noch in detaillierteren Verfahren oder Arbeitsinstruktionen verfeinert. Dies macht durchaus auch Sinn, insbesondere wenn neue Mitarbeiter in der Handhabung des Prozesses geschult werden muss.

Die Prozesse sind durch folgende vier Merkmale charakterisiert worden:

  • Messbarkeit – Die Prozesse müssen hinsichtlich Leistung, Kosten und Qualität messbar sein.
  • Klares Ergebnis als Resultat – Ein definiertes Endergebnis ist das eigentliche Ziel eines jeden Prozesses und muss individuell festgelegt sein. Es muss auch definiert werden, wer für die Erreichung des Endergebnisses zuständig ist.
  • Lieferung an Kunden – Jeder Prozess liefert sein primäres Resultat an einen Kunden oder an Stakeholder. Dabei ist es unerheblich, ob diese intern oder extern sind.
  • Reagieren auf spezifische Ereignisse – Da Prozesse fortlaufend oder iterativ funktionieren, müssen sie überwachbar und nachvollziehbar sein. Dies kann durch spezifische Auslöser – sogenannte Trigger oder Kontrollen –, beispielsweise eine Statusänderung, geschehen.

Diese Trigger sollten im Design der Prozesse berücksichtigt werden, damit die Kontrolle über den Prozess und sein Ergebnis bezüglich Effektivität, Aufwand und Qualität gewährleistet werden kann.

Eine Kontrolle wurde definiert als eine Richtlinie oder ein Verfahren, welches gewährleisten soll, dass die Prozessziele erreicht und unerwünschte Ereignisse verhindert respektive korrigiert werden können.

Prozesse sind also wichtige Bausteine einer Organisation, um klar und strukturiert arbeiten zu können. Aber Prozesse allein reichen dabei nicht aus. Wenn diese zwar definiert, respektive dokumentiert sind, bedeutet dies noch lange nicht, dass sie auch so gelebt werden. Andererseits können Prozesse zwar stringent befolgt werden, sie passen jedoch nicht zur Organisation und zum Serviceumfeld, da diese zu schwerfällig und daher auch bürokratisch empfunden werden.

Praktiken

Unter Praktiken versteht man eine ganzheitlichere Sicht als bloss den Prozess. Praktiken sind eigentliche Fertigkeiten, respektive Capabilities einer Organisation. Man wollte zuerst auch den Begriff Capability nutzen, ist dabei aber offenbar auch wegen oft falschem Verständnis des Begriffes in verschiedenen Ländern auf Praktiken zurückgekommen. Praktiken sind also organisatorische Fähigkeiten, ein bestimmtes Thema zu beherrschen und nutzen zu können. Etwas, was Unternehmen wirklich gut können, wenn sie – und nur wenn – über das richtige Gleichgewicht der vier Dimensionen des Servicemanagements verfügen, und sie bei Bedarf anwenden, um zur gemeinsamen Wertschöpfung beizutragen.

Über die vier Dimensionen habe ich in meinem letzten Blog berichtet. Das Service Value System von ITIL4 umfasst nun 34 solcher Praktiken. Wenn nun eine Organisation plant, eine oder mehrere dieser Praktiken umzusetzen, dann genügt es bei weitem nicht, Prozessworkshops durchzuführen und den Ablauf dokumentarisch festzuhalten.

Vielmehr muss eine solche Fertigkeit als Organisatorisches Veränderungsprojekt angegangen werden. Organisatorisches Change Management ist übrigens auch eine der neuen Praktiken, welche mit ITIL4 explizit aufgenommen wurde. Das Change Projekt umfasst dann mindestens folgende Streams mit den Fragestellungen:

  • Organisation – Wie ist Fertigkeit in der Organisation eingebettet und welche Strukturen sind betroffen? Wie und wo kann entschieden werden und wie organisieren, kommunizieren, und arbeiten die Teams, respektive welche Methoden werden angewendet und wie kann die Fertigkeit dort integriert werden?
  • Personen und Rollen – Welche Aufgaben und Verantwortlichkeiten müssen den Mitarbeitern übertragen werden? Welche Anforderungen müssen diese Mitarbeiter mit sich bringen, respektive wie können diese fit gemacht werden, die spezifischen Aufgaben wahrzunehmen? Wie sieht die Transformation des Change Projektes aus und wie werden die Personen in ihren Rollen gecoacht?
  • Informationen – Welche Informationen werden benötigt und welche fallen an? Gibt es aus regulatorischer oder Sicherheits-Sicht Anforderungen zu berücksichtigen? Wie stellen wir die Transparenz sicher und gewährleisten die geforderte Nachvollziehbarkeit. Sind Schnittstellen zu anderen Fertigkeiten zu berücksichtigen und wie wird einen reibungslosen Informationsfluss gewährleistet?
  • Technologie – Welche applikatorischen und infrastrukturellen Architekturen sind zu berücksichtigen und welche technischen Dienste sind bereitzustellen? Wie können Arbeitsschritte automatisiert werden und wie werden interne und externe Systeme integriert? Welche Workflow-Systeme werden eingesetzt und wie können Monitoring, Asset-Management und Zugriffsschutz gewährleistet werden?
  • Valuestreams – Welche Wertströme bestehen in der Organisation und wie kann die neue Fähigkeit diesen unterstützen? Wie trägt die neue Fähigkeit zur Engpassbeseitigung bei und beschleunigt den Durchfluss. Was ist der eigentliche Wertbeitrag und was hat das Business davon?
  • Prozesse – Wie konkret läuft der Prozess ab, wie wird er angestossen und was ist das Ergebnis des Prozesses?
  • Partner – Welche Partner sind an der Fertigkeit beteiligt und tragen zur organisatorischen Fähigkeit bei. Wie sind die Partner aus organisatorischer, technischer und prozessualer Sicht zu integrieren und wie werden sie im Team eingebunden?
  • Supplier – Welche Lieferanten unterstützen die Fertigkeit durch Produkte und Lösungen. Wie sind diese in das Management der Praktik einzubinden?
  • Externe Faktoren – Welche externen Faktoren sind beim Aufbau der neuen Fähigkeit zu berücksichtigen? Gibt es politische Strömungen und Haltungen zu beachten? Gibt es wirtschaftliche Faktoren, welche die Lösung beeinflussen? Wie sieht das soziale Umfeld aus und welchen Einfluss hat dieser auf die Ausgestaltung unserer Praktik? Sind neue Technologien zu berücksichtigen wie AIOps oder Cloud? Welchen Stellenwert hat die neue Fähigkeit bezüglich umweltfreundlicher Lösung? Gibt es neue regulatorische Anforderungen zu berücksichtigen oder bearbeiten wir gar DSGVO-relevante Informationen?

 

PESTEL Analyse
PESTEL Analyse

 

Diese Fragestellungen sind nicht abgeschlossen. Aber ohne Berücksichtigung dieser Fragen kann sich die neue Praktik nicht als organisatorische Fähigkeit etablieren.

Fazit

Wenn sich die Denke durchsetzt, dass Praktiken nur eine neue Bezeichnung der Prozesse sind, dann kann bereits jetzt prophezeit werden, dass diese Organisationen keine eigentlichen Fähigkeiten entwickeln können. Dies war im Grunde auch bei ITIL V3 Edition 2011 schon immer der Fall. Nur hat das Framework intensiv von Prozessen gesprochen, so dass die Serviceorganisationen sich vielfach nur an diesen orientierten. Last uns hoffen, dass die Botschaft in den Trainings und bei den Umsetzungsvorhaben besser vermittelt werden kann.

Damit die Valuechain nicht zum bremsenden Kettenklotz wird
Damit die Valuechain nicht zum bremsenden Kettenklotz wird


 

2 Kommentare zu «ITIL4 – Praktiken versus Prozesse. Kein alter Wein in neuen Schläuchen.»

  1. Hallo Martin,

    es ist schon sehr komisch und unglaublich zugleich: Prozesse vs. Praktiken. Wie du treffend schreibst, bringt es gar nichts, nur auf strukturierte Abläufe zu schauen und viel Papier zu produzieren. Die berühmte “Schrankware” war das Ergebnis unendlich vieler, fast schon sinnloser, Prozessprojekte. ARIS und Konsorten lassen grüßen.

    Bereits 2005, ff. habe ich in all diesen Projekten, die eigentlich vordergründig überhaupt keine reinen Prozessprojekte waren, auf die Verzahnung von Ablauf-Rolle-Organisation-Menschen gesetzt und diese Formel bis heute konsequent durchgezogen und eingehalten.

    Auch und gerade im Service Management war mir das wichtig. Seit etwa 2012 bin ich durchgängig in Organisationsprojekten, die die Einbindung von internen und externen Leistungserbringern im Mittelpunkt hat. Der Fokus der Neuausrichtung erweitere sich also auf die Dimension “Partner”. Und da wurden Organisation und Technologieintegration gerade mal richtig komplex.

    Dein wirklich super-toller Beitrag bestärkt mich und lässt mich fragen: Mache ich schon 10+ Jahre ITIL 4 oder ist das eigentlich Sinnige nun endlich mal aufgeschrieben worden und wird neu vermarket?

    Wie siehst du das?

    1. Hallo Peter,
      danke für Deine Unterstützung. Wenn Organisationen nur Prozess-Dokus haben oder den Prozess nicht leben können, respektive wollen, dann fehlt der Organisation die Fähigkeit respektive die Capability, das Thema zu beherrschen. Ganz einfach. Ich fühlte mich einfach dazu aufgerufen, darauf hinzuweisen weil es doch schon die einen oder anderen Berater gibt, die genau in das Horn von “alter wein in neuen Schläuchen” blasen.

      Wird es neu vermarktet? Ich unterscheide mal von den Autoren, welche hinter der neuen Version stecken und der Vermarktungsfirma Axelos. Die Autoren sind allesamt gestandene Service Management Experten, welche diese Denke haben. Diese Denke war auch schon früher bei diesen Leuten vorhanden – es war aber trotz dicken Büchern nicht klar transportiert worden. Jetzt wurde massiv abgespeckt und es wird mehr auf die Prinzipien verwiesen, nach welchen man sich leiten soll: eben nicht stur nach Vorgabe Prozesse zu definieren, sondern den Kunden und den Mehrwert als Leitlinie zu nutzen.

      Ob es nützt? Das werden wir sehen. Schon zu Beginn von ITIL v3 im 2007 sah die Zukunft von Service Management goldig aus. Nun haben wir mit ITIL4 eine neue. Bleibe gespannt.

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