ITIL hat uns Ordnung gegeben: Prozesse, Rollen, Praktiken, Wertströme. In einer Welt von Rechenzentren und stabilen Anwendungen war das ein entscheidender Fortschritt. Doch heute – in Zeiten von Cloud, Container-Technologien, SaaS und Künstlicher Intelligenz – reicht es nicht mehr, Prozesse aneinanderzureihen , sie als Praktiken zu benennen und auf die nächste ITIL-Version zu warten.
Wert entsteht nicht mehr durch Prozess-Compliance, sondern durch proaktives Denken und intelligentes Handeln. Serviceorganisationen müssen lernen, Datenströme zu lesen, Muster zu erkennen und mit KI zu agieren. Nur so entsteht das, was wir „Service Intelligence“ nennen – die Fähigkeit, Services stabil, innovativ und erlebbar zu gestalten.
Die neuen Praktiken der Service Intelligence
AIOps & Observability
Klassisches Monitoring erzeugt Events – aber ohne Zusammenhang. In modernen Cloud-Umgebungen laufen Applikationen über Dutzende Container, verteilt auf verschiedene Regionen. Logs liegen verstreut auf virtuellen Systemen. Wer sieht da noch den roten Faden, wenn etwas schiefläuft?
AIOps verbindet diese Punkte. Es analysiert Metriken, Logs und Events mit Machine Learning, erkennt Muster und deckt Abhängigkeiten auf, die manuell kaum sichtbar wären. Observability geht noch weiter: Systeme werden so transparent gemacht, dass nicht nur Symptome, sondern auch Ursachen sichtbar werden.

Szenario: In einem Kubernetes-Cluster häufen sich Latenzprobleme. Klassisch würden Spezialisten tagelang Logs vergleichen. AIOps erkennt in Minuten, dass eine falsch konfigurierte Datenbank-Verbindung das Problem auslöst – und stösst automatisch ein Remediation-Playbook an.
Service Request Automation
Serviceorganisationen werden von Routineaufgaben gelähmt: Passwort-Resets, Berechtigungen, Gerätefreigaben. Diese Standard-Requests binden Ressourcen und verursachen Wartezeiten.
Mit Service Request Automation werden diese Prozesse automatisiert, regelbasiert und revisionssicher abgewickelt. Das bedeutet: Anfragen, die früher Tage dauerten, sind heute in Minuten erledigt – ohne menschliche Interaktion.

Szenario: Ein neuer Mitarbeitender benötigt zehn Zugriffe. Klassisch: Tickets, Wartezeit, Nachfragen. Automatisiert: Der Workflow prüft Policies, vergibt Rechte und dokumentiert – alles innerhalb von Minuten.
Predictive Analytics
Klassisches ITSM reagiert: Tickets entstehen, wenn Probleme da sind. Predictive Analytics dreht das Spiel um: Daten aus Vergangenheit und Echtzeit werden genutzt, um Trends vorherzusagen.
Damit wird die IT vom Getriebenen zum Gestalter. Anstatt ständig Brände zu löschen, kann sie Kapazitäten vorausplanen, Engpässe vermeiden und das Business beraten.

Szenario: Nach Major-Releases schnellen Remote-Access-Anfragen hoch. Klassisch: Support überlastet, Systeme brechen ein. Predictive Analytics erkennt das Muster, plant die Kapazität vorab und verhindert Ausfälle.
AI-powered Asset Management
Die klassische CMDB ist ein Trauerspiel: veraltet, lückenhaft, manuell gepflegt. In dynamischen Cloud-Umgebungen ist das unhaltbar.
AI-powered Asset Management überwacht kontinuierlich die Nutzung von Lizenzen, Services und Hardware. Es identifiziert ungenutzte Ressourcen, prognostiziert Ausfälle und optimiert Lebenszyklen. Damit wird Asset Management von der Verwaltungsaufgabe zum strategischen Steuerungsinstrument.

Szenario: Eine KI erkennt, dass 20% der SaaS-Lizenzen ungenutzt bleiben und ein Storage-Knoten in drei Wochen ausfallen wird. Klassisch wäre das erst beim Incident sichtbar geworden – hier kann proaktiv gehandelt werden.
Sentiment Analysis
SLAs sagen: „Alles im grünen Bereich.“ Doch die Nutzer sind längst frustriert. Klassisches Reporting übersieht die Stimmungslage, weil es nur harte Kennzahlen misst.
Sentiment Analysis analysiert Sprache, Chatverläufe und Feedback-Texte. Sie erkennt Frustration, Sarkasmus oder Zufriedenheit – lange bevor Beschwerden offiziell eskalieren.

Szenario: Klassisch merkt das Management erst beim eskalierenden Anruf, dass User unzufrieden sind. Mit Sentiment Analysis erkennt die KI die wachsende Frustration frühzeitig – und ermöglicht Gegenmassnahmen, bevor es knallt.
Predictive Maintenance
Klassische Wartung erfolgt nach starren Plänen oder erst, wenn Systeme ausfallen. Das führt zu unnötigen Kosten und ungeplanten Downtimes.

Predictive Maintenance nutzt Sensor- und Nutzungsdaten, um den Verschleiss vorauszuberechnen. Ausfälle werden prognostiziert und gezielt vermieden.
Szenario: Ein API-Gateway zeigt steigende Temperaturwerte. Klassisch wäre das erst beim nächtlichen Ausfall bemerkt worden. Mit Predictive Maintenance wird der Austausch im Wartungsfenster geplant – und der Incident verhindert.
Automated Incident & Problem Management
Incident Management im klassischen ITSM: Meldung aufnehmen, Ticket eröffnen, eskalieren. Problem Management: später, vielleicht, irgendwann.
Mit Automated Incident & Problem Management werden Vorfälle automatisch erkannt, kategorisiert und konsolidiert. Wiederkehrende Muster werden identifiziert und in Problem-Tickets überführt – sofort, ohne manuelle Verzögerung.

Szenario: Ein Netzwerkfehler erzeugt hunderte Tickets. Klassisch: Überlastung, Chaos, War-Room. Neu: Das System erkennt das Muster, fasst alle Tickets zusammen und initiiert sofort ein Standard-Playbook.
Automated Ticketing
Tickets werden klassisch oft falsch kategorisiert, landen im falschen Team und wandern durch die Organisation.
Automated Ticketing setzt Natural Language Processing ein, um Tickets sofort zu verstehen, korrekt zu kategorisieren und mit Kontextdaten anzureichern.

Szenario: „VPN geht nicht“ landet nicht mehr bei drei falschen Teams. Die KI erkennt das Problem, hängt Logs und Auth-Fehler an und leitet es direkt an das richtige Team weiter.
Intelligent Knowledge Management
Wissensdatenbanken sind oft veraltet oder zu statisch. Mitarbeitende verlieren Zeit mit der Suche nach Lösungen.
Intelligent Knowledge Management macht Wissen lebendig: KI schlägt Lösungen im Kontext vor, aktualisiert Artikel automatisch und erkennt Wissenslücken.

Szenario: Klassisch muss ein Support-Agent endlos in Artikeln suchen. Neu: Die KI schlägt sofort die passende Lösung vor – und aktualisiert den Wissensartikel nach erfolgreicher Bearbeitung automatisch.
Virtual Assistants & Chatbots
Service Desks sind klassisch zu Bürozeiten besetzt – aber Probleme kennen keine Uhrzeit.
Virtuelle Assistenten verstehen natürliche Sprache, führen Aktionen selbständig aus und eskalieren nur, wenn nötig. Sie sind ein 24/7-Kanal, der Last abfedert und Services zugänglicher macht.

Szenario: Ein Mitarbeiter in Singapur braucht um zwei Uhr nachts Support. Klassisch: keine Chance. Neu: Der virtuelle Assistent versteht die Anfrage, führt das Runbook aus und liefert das Ergebnis – sofort.
User Behaviour Analysis
Klassisches ITSM kennt nur Tickets – nicht das Verhalten dahinter. Doch gerade das Nutzerverhalten gibt Hinweise auf Risiken und Bedarfe.
User Behaviour Analysis (UBA) analysiert Logins, Geräte und Zugriffsmuster. Abweichungen werden erkannt und bewertet – ob im Sinne der Sicherheit oder der Nutzererfahrung.

Szenario: Klassisch bleibt ein riskanter Zugriff unentdeckt, bis Schaden entsteht. Mit UBA wird der ungewöhnliche Zugriff sofort erkannt, mit Risiko bewertet und abgesichert.
Root Cause Analysis
Die Ursachenfindung ist der Flaschenhals des klassischen ITSM. Stundenlange War-Rooms, Spezialisten aus allen Bereichen, Logs auf allen Ebenen – die Koordination verschlingt Zeit und Nerven.
Automatisierte Root Cause Analysis ändert das Spiel: KI korreliert Logs, Events, Konfigurationsänderungen und Nutzungsdaten parallel. Die Ursache wird in Minuten gefunden, wo Menschen Tage brauchen. Das Entscheidende: Jetzt können nicht nur „Top-Prioritäts-Probleme“ behandelt werden, sondern alle. Stabilität wird so zum automatischen Nebeneffekt.

Szenario: Ein kritischer Payment-Service fällt aus. Klassisch: War-Room, nächtelange Analysen. Neu: RCA identifiziert in Minuten ein fehlerhaftes Load-Balancer-Update, stösst das Rollback an und beendet den Incident, bevor das Business ernsthaft leidet.
Fazit: Von Prozessen zu Fähigkeiten
Das klassische Prozessdenken im ITSM reicht nicht mehr. Tickets, SLAs, Workflows – all das bleibt wichtig, aber es ist nicht der Kern. Der Kern ist die Fähigkeit, Daten zu verstehen und in Intelligenz zu verwandeln.
Service Intelligence entsteht nicht durch den Kauf neuer Tools mit „AI-Label“. Sie entsteht, wenn Organisationen Fähigkeiten aufbauen: Datenqualität sichern, Modelle trainieren, Mitarbeitende schulen und das Zusammenspiel zwischen IT und Business neu denken.
Die Roadmap zur Service Intelligence
- Datenqualität herstellen – ohne saubere, vollständige und zugängliche Daten sind alle KI-Initiativen wertlos.
- Use-Cases starten – kleine, konkrete Szenarien wie Ticketing oder Predictive Analytics einführen und lernen.
- Kompetenzen aufbauen – KI muss als Fähigkeit in die Organisation integriert werden, nicht als Zusatzfunktion eines Tools.
- Ökosystem vernetzen – IT, Business und Partner müssen gemeinsam an Service Intelligence arbeiten.
- Kultur ändern – weg vom reaktiven Feuerwehr-Modus, hin zu proaktivem und datengetriebenem Handeln.
Service Intelligence bedeutet: die Zukunft aktiv gestalten, statt von ihr überrollt zu werden. Wer wartet, verliert. Wer handelt, baut jetzt die Fähigkeiten, die morgen den Unterschied machen.

