Standard+Case-Prozess

Buch-Review: Plus! The Standard+Case Approach von Rob England, The IT Skeptic

Robert England ist bekannt dafür, dass er die sogenannten Best Practice Ansätze von ITIL oder auch anderen Standards kritisch hinterfragt und in seinen Blog-Beiträgen mitunter auch mal heftig beanstandet. Wir haben Rob England – oder wie er sich selbst auch nennt: „The IT Skeptic“ als Keynote-Speaker zum 5. ITIL-Forum 2013 in Sarnen Rob hat uns aufgezeigt, dass die viel diskutierten Standards, welche uns die Service Management Welt in klar definierte Bahnen zu lenken versucht ein grosses Problem hat: die Realität.

Die Dienstleistungsindustrie ist nicht gleichzusetzen mit einer industriellen Produktion, in welcher fliessbandartig Produkte, respektive Services hergestellt werden können. Dienstleistungen oder neu-deutsch „Services“ entstehen in der Interaktion zwischen Kunden und Dienstleistungsanbieter. Die Art und Weise, wie die Reaktion des Providers auf Kundenanfragen ausfällt, bestimmt die Qualitätswahrnehmung des Kunden. Und diese sollte ja gemäss Grundprinzip des Service Managements nach ITIL als optimiert und als das zentrale und oberste Ziel betrachtet werden.

Plus! The Standard+Case Approach
Plus! The Standard+Case Approach

Rob England hat in seinem neuesten Buch, „Plus! The Standard+Case Approach“ die Service-Beantwortung oder Service-Reaktion in ein neues Licht gestellt. Damit  stellt er einen neuen Ansatz für Reaktionen auf Service-Anfragen zur Verfügung, welcher jedoch nicht bloss für die IT, sondern auch für alle anderen Arten von Dienstleistungen anwendbar sind, wie zum Beispiel Technischer Support, öffentliche Sicherheit, Sozialämter oder auch im Gesundheitswesen.

Rob stellt klar, dass bei Dienstleistungsanfragen entweder eine Standart-Lösung vorliegt – oder eben keine. Die Best Practice Ansätze wie ITIL® haben das Ziel, alle Arten von Anfragen klar zu kategorisieren und deren Abläufe zu standardisieren: Incidents, Problems, Change Requests, Service Level Anfragen und auch Service Requests seit ITIL® V3. Mit dem Ziel, die Effizienz zu steigern gilt es alle möglichen Anfragen in ein vordefiniertes Schema zu pressen und dann auf Basis eines klar strukturierten Vorgehens darauf zu reagieren.

Das ist aber, so Rob England in seinem Buch, nicht die Realität. Dienstleistungsanfragen haben gerade das Besondere, dass diese nicht immer klar zuordnungsbar sind. Manchmal wünschen sich Kunden auch etwas Spezielles, was nicht im Service Katalog enthalten ist. Oder eine technische Störung tritt auf, welche nicht von vornherein klar definierbar ist. Anstelle jetzt zu versuchen, diese nichtkonforme Service Anfrage oder Situation in einen Standard zu pressen sollte man mit Fachexperten unbürokratisch und situationsgerecht reagieren können. Das kommt dem Kunden entgegen – und ist auch bei einer grösseren Störung das Sehnlichste was sich ein Service-Verantwortlicher wünscht. Das entspricht auch eher der Realität.

Rob England kann es sich nicht verkneifen immer wieder einen Seitenhieb auf ITIL® zu erteilen. So vergleicht er die Feuerwehr auch etwas mit dem Incident Management. ITIL empfiehlt je nach Schwere der Störung eine Priorisierung vorzunehmen: die grossen Störungen sollen demnach zuerst behandelt werden, während kleinere auch später noch angegangen werden können. Das kann sich eine Feuerwehr nicht leisten in dem man verschiedene Feueralarme herausgibt. Ein jetzt noch kleines Feuerchen kann sich bis morgen zu einem Flächenbrand ausbreiten. Es ist eben eine auch vom Kunden zu akzeptierende Tatsache, dass kleine Fälle schneller bearbeitet werden können als grosse, welche nun mal länger dauern. Diese Situation mag in den Service-Level-Verhandlungen auf Seiten der Kunden zu Problemen führen – aber hierzu braucht es auch eine aufklärende Kommunikation, welche der Realität besser Rechnung trägt. Dies kommt dann auch später im Alltag wieder zu gute.

Service Anfragen sind jedoch nicht nur Incidents, sondern Anfragen aller Art: Service Requests, Störungen, Events, Probleme, Change Requests, Service Level Requirements etc.

Standard+Case-Prozess
Standard+Case-Prozess

In seinem Ansatz beschreibt Rob England, das es nun wichtig ist, bei der Service-Annahme richtig zu kategorisieren. Entweder gibt es einen Standardablauf, dann ist dieser zu befolgen. Falls es keinen bekannten Standard gibt, so ist ein „Case“ zu eröffnen. Auch diese Case’s gilt es zu steuern, aber mit möglichst wenigen Einschränkungen für die „Case-Worker“. Diese Rolle kommt den erfahrenen und absoluten Spezialisten innerhalb der Organisation zugute, welche der Situation entsprechend die Lösung herbeiführen (damit lässt sich auch eine Laufbahnplanung für Spezialisten bilden). Diese „Case-Worker“ lassen sich bei der Suche nach einer Lösung auch nicht gerne in ein Korsett zwängen, sondern brauchen das Vertrauen der Organisation und des Managements, die richtige Lösung schnell zu finden. Es ist auch von vornherein zu akzeptieren, dass es letztlich auch keine Lösung geben kann.

Es ist klar, dass es auch hier eine Policy braucht, welche definiert, unter welchen Umständen solche „Case’s“ eröffnet werden dürfen und wie der Ressourcenbedarf zu regeln und zu autorisieren ist. Man darf die Spezialisten nicht einfach von der Leine lassen, sondern es braucht auch klare Regeln, welche zu respektieren sind. Es spricht aber genau die Verantwortlichkeit der Spezialisten, der Case-Worker an, welche ihnen in einem Standard-Ablauf abhandenkommt. Dieser Respekt ihrer Professionalität und Experten-Status führt in aller Regel zu guten Lösungen.

Es ist auch klar, dass dieses Instrument nicht der Normalfall sein soll. Man geht eher davon aus, dass bei rund 60-70% der Service Anfragen wohl Standard-Lösungen vorhanden sind. Bei den restlichen braucht es ein besonderes Vorgehen. Aber eben auch diese Non-Standard-Fälle gilt es als normale Aufträge zu überwachen. Dort wo diese negiert oder als Ausnahmen abgetan werden, entstehen kontrollierte Lösungen, welche weder die Kunden, die Anwender noch den Provider zufriedenstellen.

Gemäss Rob England kann es nun auch sein, dass nach einer erfolgreichen Abwicklung eines Cases, dieser alsdann als Standard aufgenommen werden kann.

In seinem Buch geht Rob England auch darauf ein, wie eine solche Organisation gemanagt und gemessen werden kann. Es braucht hierzu spezielle Messkriterien, welche auf die Leistungsfähigkeit von Nicht-Standard-Fällen ausgerichtet ist.

Mit dem Ansatz „Standard+Case“ (Rob hat leider noch keinen besseren Namen dafür gefunden wie er mir erzählt hat) wird der Realität im Dienstleistungsbereich besser Rechnung getragen: Es gibt Standard-Abläufe, und es gibt eben auch Situationen, welche nicht mit einem Standardverfahren abzuwickeln sind. Anstelle diese sogenannten Case’s als Ausnahmen und Sonderfälle zu deklassieren werden diese als ganz normale Fakten wahrgenommen und entsprechend darauf reagiert.

Der “Standard+Case” ermöglicht zudem noch folgende Nutzenvorteile:

  • Grössere Flexibilität in der Beantwortung von Nutzeranfragen
  • Höhere Kunden- und Anwender-Zufriedenheit
  • Verbesserte Mitarbeiterzufriedenheit und –Moral
  • Besseres Messsystem: grössere Berechenbarkeit der Standard-Anfragen (weniger Streumenge) und mehr aussagekräftiges Überwachen von Case-Bearbeitungen.

Ich kann dieses Buch allen wärmstens ans Herz legen, welche bei der Umsetzung oder bei der Steuerung von Service-Organisationen beteiligt sind.  Wenn man Rob kennt, so weiss man um seinen pragmatischen und praxisorientierten IT Hintergrund. Das Buch ist so konzipiert, dass es eine direkt umsetzbare Methode enthält und dies nicht nur für Service Management sondern auch im Projektumfeld direkt anwenden kann.

Hier kann man das Buch bestellen.

Viel Vergnügen beim Lesen und bei der Umsetzung!


 

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